Roman Bucheli · Nichts sei mehr wie vorher, sagte die türkische Autorin Asli Erdogan im Januar 2017 in einem Gespräch mit der NZZ, nachdem sie im Nachgang zum Putsch vom Sommer 2016 ein halbes Jahr unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert gewesen war.
Seit sie wieder im Besitz ihrer Reise dokumente ist, lebt sie in Deutschland im Exil. So gilt für die 1967 in Istanbul geborene Schriftstellerin heute umso mehr: Nichts ist mehr, wie es war. Sinnfälliger könnte darum Erdogans soeben in deutscher Übersetzung erschienenes
Buch gar nicht heissen als «Requiem für eine verlorene Stadt». Ihre träumerisch poetischen Miniaturen über die Gassen, «wo die Stille des Himmels sich mit der Stille der Steine vereint», rufen Vergangenes und Verlorenes in Erinnerung. Doch die Texte sind lange vor dem traumatischen Einschnitt von 2016 geschrieben worden und in der Türkei als Buch erschienen. Die Reflexionen erzählen von früheren Verlusterfahrungen. In der poetischen Reduktion in dessen entstehen Bilder, die zwar von der Erinnerung gestiftet sind und ein
magisches Herkunftsland zeichnen, aber ahnungsvoll in die Zukunft blicken und von Verlusten sprechen, die dem Leben erst noch bevorstehen. Auch der Leser wird in dem Buch mehr finden als die Melancholie seiner Autorin. Ihre Texte sollten wie Gedichte gelesen werden, sagt Asli Erdogan, und möchten, dass man sie mit «eigenem Leben ergänzt».
Asli Erdogan: Requiem für eine verlorene Stadt. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Penguin-Verlag, München 2022. 123 S., Fr. 33.90. Neue Zürcher Zeitung